Umsatz-Schätzungen der Finanzämter bei Bargeldunternehmen
Punkt 1
Kassenaufzeichnungen von sog. Bargeldunternehmen (Restaurants, Kioske, Apotheken, Tankstellen etc.) sind ein ständiger Streitpunkt bei Betriebsprüfungen. Einige Finanzminister der Länder, allen voran der frühere nordrhein-westfälische Finanzminister Norbert Walter-Borjans, haben dazu durchaus medienwirksam beigetragen. In einer Pressemitteilung des nordrhein-westfälischen Finanzministeriums vom 03.04.2014 war von angeblichen Steuerausfällen i.H.v. rund 10 Mrd.€ die Rede. Ob diese Zahl stimmt, ist nicht nachgewiesen. Jedenfalls scheint sie erheblichen Nachhall bei Betriebsprüfungen durch die Finanzämter zu finden.
Punkt 2
Die Pressemitteilung im Rücken, verlaufen viele Betriebsprüfungen in der „Bargeldbranche“ nach dem gleichen Schema ab. Es werden Fehler in den Kassenaufzeichnungen gesucht (und gefunden), die Kassenbuchführung wird verworfen. Es folgen Schätzungen der Umsätze, die in vielen Fällen so exorbitant hoch sind, dass sie existenzbedrohend, wenn nicht gar existenzvernichtend sind. Eine kurz vor der Pensionierung stehende Prüferin des Finanzamtes wies mich vor Kurzem darauf hin, dass sie früher ihrem Sachgebietsleiter erklären musste, warum sie in bestimmten Fällen Hinzuschätzungen vorgenommen hatte. Heute sei dies anders. Sie müsse dem Sachgebietsleiter erläutern, warum sie keine Hinzuschätzungen vorgenommen habe.
Punkt 3
Die Frage ist, was zu tun ist. Die nachfolgenden im Text dargestellten Beispiele entstammen sämtlich der Realität und verdeutlichen, welche Brisanz das Thema hat.
Beispiel EDV-Fachmann eröffnet Bio-Restaurant
Ein EDV-Fachmann hat vor Jahren seine Firmenanteile für mehrere Mio. € verkauft. Theoretisch muss er nie mehr arbeiten. Gleichwohl eröffnet er Jahre später ein sog. Bio-Restaurant und bezahlt – da keine Branchenerfahrung vorhanden – Lehrgeld, indem in den ersten Jahren die Ausgaben höher sind als die Einnahmen, was bekanntlich einen Verlust nach sich zieht. Er nimmt permanent Einzahlungen aus seinem privaten Geld in das Betriebsvermögen vor, um die laufenden Kosten zu decken.
In seiner ersten Betriebsprüfung als Restaurantbetreiber wird ohne große Begründung durch das Finanzamt behauptet, die elektronische Kasse (von einem namhaften Hersteller) sei nicht manipulationssicher. Der Prüfer – ein Finanzbeamter – nimmt Schätzungen im Bereich der Aufschlagsätze für Bio-Mahlzeiten vor, die die bisherigen Verluste eliminieren und das Restaurant – zumindest auf dem Papier – in ein prosperierendes Lokal verwandeln. Gleichzeitig werden die Bar-Einzahlungen argwöhnisch betrachtet und der Steuerpflichtige wird mit der Frage konfrontiert, wo das Geld herkomme.
Viele Steuerpflichtige suchen (auf Anraten ihrer Steuerberater) ihr Heil in der Anschaffung einer unter Umständen teuren digitalen Kasse. Festzuhalten ist allerdings, dass kein Kassensystem, ob zertifizierte Computerkasse oder offene Ladenkasse, zu 100% manipulationssicher ist. Jede Kasse ist im Grunde von vornherein Zielobjekt der Prüfer in Betriebsprüfungen.
Beispiel elektronische Kasse
Im Rahmen einer laufenden Betriebsprüfung erscheint unangekündigt ein weiterer Mitarbeiter des Finanzamtes und wird als „Kassensachverständiger“ vorgestellt. Die elektronische Kasse wird von ihm ausgelesen. Später wird mitgeteilt, dass die Kasse manipulierbar sei und die aufgezeichneten Einnahmen durch eine Schätzung ersetzt werden müssten. Die spätere Schätzung ist existenzbedrohend. Die voraussichtlichen Ergebnisse wird der Steuerpflichtige nicht aufbringen können. Es wird sich die Frage stellen, ob er persönlich Insolvenzantrag stellt oder das Finanzgericht angerufen werden soll.
Aufbewahrung der Kassenunterlagen
Von Anfang an sollte dafür gesorgt werden, dass alle Organisationsunterlagen der Kasse aufbewahrt werden. Dazu gehören u.a.
- die Gebrauchsanweisung
- das Einrichtungsprotokoll
- jede weitere Dokumentation über die Änderung von Daten der Kasse
- die fortlaufende Erfassung der Einnahmen und Ausgaben, meistens über sog. Z-Bons
Hinzu kommen sog. Kassenprotokolle. Hierbei handelt es sich um eine Dokumentation, wie sich der Kassenbestand am Ende des Tages zusammensetzt (Bsp.: Endbestand 100 €, Kassenzählprotokoll: 1 x 50 €, 2 x 20 €, 2 x 5 €). Dies ist gesetzlich nicht vorgesehen und man streitet sich über die Notwendigkeit. Der Bundesfinanzhof (BFH) hat vor Kurzem entschieden, dass Kassenprotokolle nicht unbedingt notwendig sind. Allerdings verlangen manche Betriebsprüfer derartige Protokolle, andere verzichten darauf.
Ich empfehle die Führung solcher Protokolle zur eigenen Sicherheit. Das Protokoll kann als Nachweis dafür eingesetzt werden, dass der Bestand laut Kassenbuchführung mit dem zusätzlichen Zähl-Bestand übereinstimmt.
Beispiel Kassensturz
Bei der Schlussbesprechung steht der Prüfer plötzlich auf, geht zur Kasse und verlangt einen sog. Kassensturz. Das bedeutet: Leeren der Kasse, Durchzählen der Geldbestände und Vergleich mit der Kassenbuchführung, ob die tatsächlichen Geldbestände laut Kasse mit den Geldbeständen laut Buchführung übereinstimmen. Wenn dies nicht der Fall ist, liegt bereits ein Mangel in der Kassenbuchführung vor und eröffnet sich ein weiter Raum für Schätzungen.
Punkt 4
Neben der digitalen Kasse gibt es noch die sog. offene Ladenkasse. Hier ermittelt der Steuerpflichtige mittels vorgeschriebenen Mustern den Anfangsbestand der Kasse pro Tag, die Einnahmen, die Ausgaben, private Einlagen und Entnahmen sowie den Kassenendbestand pro Tag.
Der BFH hat durch einen aktuellen Beschluss vom 12.07.2017 (X B 16/17) entschieden, dass bei sog. Einnahme-Überschussrechnern (§ 4 Abs. 3 EStG) die offene Ladenkasse zulässig ist.
Das höchste deutsche Steuergericht hat im Rahmen dieses AdV-Verfahrens (vorläufiges Verfahren, bei dem es um die Aussetzung der Vollziehung geht) dem durch den Steuerpflichtigen gestellten Antrag stattgegeben. Zumindest für den Bereich der Gaststättenbetriebe wurde die vom Finanzamt angenommene Mangelhaftigkeit der Kassenaufzeichnungen bezweifelt, da der Antragsteller die einzelnen Einnahmen nach jedem Kassiervorgang auf einem Tageseinnahme-Zettel notiert hatte und diesen mit seinem Namenszeichen abgezeichnet und aufsummiert hatte. Ob neben den Tageseinnahmen-Zetteln sog. „Kellnerzettel“ existierten, die als Einnahme-Ursprungsaufzeichnungen aufbewahrungspflichtig gewesen wären, konnte in dem Verfahren nicht geklärt werden. Das Fehlen von Kassenstreifen und Bons könne jedoch nicht bemängelt werden, wenn die verwendete offene Ladenkasse technisch nicht in der Lage ist, solche Unterlagen zu produzieren. Der BFH hat auch die Loseblattform (wie z.B. bei Tagesberichten) nicht bemängelt, da § 4 Abs. 3 EStG keine Aufzeichnungen in Buchform verlange. Die gebundene oder jedenfalls in sich geschlossene Form wie etwa beim Fahrtenbuch wäre hier nicht erforderlich.
Man darf für diese Entscheidung dankbar sein, weil der BFH ziemlich eindeutig Gesetzgeber und Verwaltung kritisiert. Wenn eine Einnahmen-Überschuss-Rechnung mit reduzierten Aufzeichnungspflichten zulässig sei und eine offene Ladenkasse nicht ausdrücklich verboten sei, dürfe die Finanzverwaltung aus der bloßen Manipulationsmöglichkeit keine volle Schätzungsbefugnis ableiten.
Der BFH hält auch fest, dass geringfügige formelle Buchführungsmängel allein die Finanzbehörde nicht zu einer Schätzung berechtigen. Hinzukommen müssen noch materielle Mängel (z.B. nicht passende Rohgewinnaufschlagsätze), die in dem entschiedenen Fall allerdings nicht nachgewiesen werden konnten.
Man sollte allerdings darauf achten, dass die offene Ladenkasse auch rechnerisch stimmt.
Beispiel Schätzungen
Die Kasse startet morgens mit 100 € Anfangsbestand. Im Laufe des Tages werden 100 € Einnahmen erzielt (macht 200 €). Es findet eine Entnahme von 100 € statt (verbleiben 100 €). Es werden Barausgaben von 120 € über diesen Bestand bezahlt. Die Kasse würde dann mit einem Minus von 20 € enden. Rein tatsächlich ist das nicht möglich. In der täglichen Buchführungsarbeit kommt der Fall aber öfter vor, als man denkt. Findet der Prüfer diesen Fehler, ist mit einer Verwerfung der Kassenbuchführung zu rechnen. Schätzungen stehen dann an.
Punkt 5
Folgende Schlussfolgerungen sind zu ziehen:
Jede Kasse sollte sorgfältig geführt werden. Nach außen hin sollte sie möglichst unangreifbar gemacht werden. Alle nur erdenklichen formellen Nachweise (Gebrauchsanweisung, Einrichtungsprotokoll etc.) sollten unbedingt aufbewahrt werden. Die Z-Bons sollten fortlaufend aufgezeichnet werden. Bei einer offenen Ladenkasse sollte – wenn auch gesetzlich nicht vorgeschrieben – ein Kassen-Zählprotokoll angefertigt werden. Mit Hilfe des Steuerberaters oder einer sachkundigen Person sollte der Rohgewinnaufschlag regelmäßig verprobt und festgehalten werden. Ausreißer in diesem Bereich sollten geklärt und festgehalten werden.
Beispiel beeinträchtige Rohgewinnmarge
In einem Monat wird in das Lager/den Kühlraum des Restaurants eingebrochen und alle Vorräte werden gestohlen. Bei mehreren Veranstaltungen wird Freibier zur Verfügung gestellt. Taxifahrer erhalten Gutscheine, wenn sie zusätzliche Gäste bringen. In allen diesen Fällen wird die Rohgewinnmarge beeinträchtigt. Die Vorgänge sollten deshalb zu späteren Beweiszwecken in einer Betriebsprüfung dokumentiert und festgehalten werden.
Sollte das Finanzamt trotz dieser Vorarbeiten eine Schätzung durchsetzen wollen, bleibt nur der Weg zum Finanzgericht.
Seitens der Finanzbeamten wäre wünschenswert, dass das allgemein gültige Sprichwort „Kirche im Dorf lassen“ auch bei tatsächlich erforderlichen Schätzungen weiterhin Gültigkeit hat und nicht durch astronomische Schätzungen ausgehebelt wird. Sollten in vielen Fällen die Berechnungen der Prüfer zutreffen, sollten sie dies als Anreiz nehmen, aus dem Staatsdienst auszuscheiden und selbst einen Bargeldbetrieb zu eröffnen. Sicherlich gibt es innerhalb der „Bargeldbranche“ auch schwarze Schafe, die es mit den Schwarzeinnahmen übertreiben. In den von mir bisher vertretenen Fällen war dies aber nicht der Fall. Deshalb auf alle Betroffenen aus der Bargeldbranche den Bann der „Schätzstrafe“ zu richten, ist nicht sachgerecht. Viele Existenzgrundlagen werden dadurch gefährdet.